Sehr geehrte Redaktion,
Die Folgen der COVID-19 Pandemie sind unbestreitbar schwerwiegend. Mit Stand vom 18. April 2020 gibt es weltweit fast 2,2 Millionen bestätigte Fälle und mehr als 146.000 Todesfälle von registrierten Infizierten (World Health Organization, 2020). Darüber hinaus kann der COVID-19-Ausbruch indirekt die Zahl der Todesopfer erhöhen, weil Behandlungen von Menschen mit anderen lebensbedrohlichen Krankheiten verschoben werden können und Menschen mit anderen Gesundheitsproblemen den Besuch von Gesundheitseinrichtungen vermeiden, um sich nicht anzustecken. Letztendlich ist damit zu rechnen, dass die Zahl der Todesopfer weltweit einige der tödlichsten Naturkatastrophen der jüngeren Geschichte übertreffen wird, darunter der Tsunami in Ostasien 2004 (230 000 Tote) und das Erdbeben in Haiti 2010 (höchste Schätzung: 316 000 Tote). Die Pandemie und die staatlichen Maßnahmen zur Eindämmung ihrer Auswirkungen können zusätzliche Stressfaktoren mit sich bringen, z. B. soziale Isolation, Verlust des Arbeitsplatzes, Risiko einer Virusinfektion bei einigen Arbeitnehmern, schwere Erkrankungen, Quarantäne und Einweisung in die Intensivstation.
Die jüngsten bahnbrechenden Studien in der Psychiatrieforschung haben gezeigt, dass in der Allgemeinbevölkerung in den von COVID-19 betroffenen Gebieten vermehrt psychiatrische Beschwerden, einschließlich Angst und Depression, auftreten (z. B. Cao et al., 2020). Während die Zunahme psychischer Gesundheitsprobleme nach Naturkatastrophen und Virusausbrüchen bereits früher dokumentiert wurde, wurde schweren, behindernden und langwierigen Trauerreaktionen, die als komplizierte Trauer oder anhaltende Trauer (PG) bezeichnet werden, in der Vergangenheit weniger Aufmerksamkeit geschenkt (Eisma et al., 2019). Dies ist zumindest teilweise darauf zurückzuführen, dass gestörte Trauer bis vor kurzem nicht als Störung in psychiatrische Klassifikationssysteme aufgenommen wurde. Dies änderte sich 2018, als die Störung der verlängerten Trauer (PGD) in die elfte Auflage der Internationalen Klassifikation der Krankheiten (ICD-11) aufgenommen wurde. Die PID ist gekennzeichnet durch quälende und behindernde Sehnsucht nach dem Verstorbenen und/oder Beschäftigung mit dem Verstorbenen, begleitet von Wut, Schuldgefühlen und anderen Symptomen, die auf intensiven emotionalen Schmerz hinweisen, der mindestens sechs Monate nach dem Verlust auftritt. Im Jahr 2013 wurde im 5. Diagnostischen und Statistischen Handbuch Psychischer Störungen (DSM-5) die Diagnose Persistent Complex Bereavement Disorder (Anhaltende komplexe Trauerstörung) in Abschnitt 3 aufgenommen; diese Diagnose wird wahrscheinlich durch eine Diagnose mit der Bezeichnung Prolonged Grief Disorder (Anhaltende Trauerstörung) in Abschnitt 2 der bevorstehenden Überarbeitung des DSM-5 ersetzt werden (Boelen und Lenferink, 2020). Trotz des Mangels an Forschung über Trauer nach globalen Virusausbrüchen argumentieren wir, dass es mindestens zwei Gründe gibt, warum die COVID-19-Pandemie zu einem weltweiten Anstieg von PID-Fällen führen könnte.
Erstens führen Katastrophen mit vielen Opfern im Allgemeinen zu einem höheren Maß an PID-Symptomen bei den Hinterbliebenen, als dies bei anderen Todesarten beobachtet wird. Darüber hinaus unterscheiden sich die PG-Symptome bei diesen Überlebenden häufig von komorbiden Störungen wie posttraumatischen Belastungsstörungen (PTBS) oder Depressionen (für einen kurzen Überblick: Eisma et al., 2019). So zeigten beispielsweise ein Jahr nach dem Erdbeben in Sichuan latente Klassenanalysen, dass etwa ein Viertel der trauernden Überlebenden hohe PTBS- und PG-Symptomwerte aufwies und ein weiteres Viertel ausschließlich hohe PG-Symptome (Eisma et al., 2019). In Anbetracht der beträchtlichen Ähnlichkeiten von Katastrophen mit der COVID-19-Pandemie (d. h. eine hohe Zahl von Todesopfern, viele sekundäre Stressoren, schwerwiegende gesellschaftliche Störungen) gehen wir davon aus, dass bei den Hinterbliebenen dieser Pandemie ähnliche Muster psychischer Gesundheitssymptome zu beobachten sein werden.
Zweitens sind angesichts der Umstände vieler COVID-19-Todesfälle erhöhte PID-Raten zu erwarten. PID-Symptome sind typischerweise erhöht, wenn Todesfälle unerwartet eintreten, traditionelle Trauerrituale (z. B. Abschiednehmen, Besichtigung und Beerdigung des Leichnams) fehlen (Castle und Phillips, 2003) und es an physischer sozialer Unterstützung mangelt (Lobb et al., 2010). Darüber hinaus könnten dieselben potenziellen Risikofaktoren aufgrund der auf die Pandemie ausgerichteten Regierungspolitik auch die Trauer von Menschen verstärken, deren Familienmitglieder durch andere Ursachen als COVID-19 gestorben sind.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass wir angesichts der Entwicklung und der Folgen der COVID-19-Pandemie davon ausgehen, dass die PID weltweit zu einem wichtigen Thema der öffentlichen Gesundheit werden wird. Unter der Voraussetzung, dass die künftige Forschung diese wissenschaftlich fundierten Vorhersagen bestätigt, muss mit einem erhöhten Bedarf an wirksamen PID-Behandlungen gerechnet werden. Die derzeitige Versorgung wird wahrscheinlich nicht ausreichen, da evidenzbasierte Behandlungen für PID weltweit nicht weit verbreitet sind und es möglicherweise weniger qualifizierte Fachkräfte im Gesundheitswesen gibt, die solche Behandlungen während der Pandemie durchführen können. Daher sollten wir gemeinsam darauf hinarbeiten, die Zugänglichkeit evidenzbasierter PID-Interventionen zu verbessern, einschließlich kognitiv-behavioraler Behandlungen sowohl in Präsenz- als auch in Online-Formaten (für eine Übersicht: Johannsen et al., 2019). Es ist besonders wichtig, die Entwicklung und Verbreitung von internetbasierten PID-Behandlungen zu fördern, da solche Interventionen auch dann angewandt werden können, wenn die Pandemie über längere Zeiträume hinweg anhält.