In keinem anderen EU-Land gibt es so viel Urwald wie in Rumänien: Schätzungsweise zwei Drittel der letzten wilden Wälder Europas befinden sich hier in den Karpaten.
Rumänien ist buchstäblich eine Schatztruhe des europäischen Naturerbes, der „Urwald-Hotspot“ Europas. Die meisten dieser Wälder bestehen aus alten Buchen- und Buchenmischwäldern und beherbergen die größten Braunbären-, Wolfs- und Luchspopulationen der Europäischen Union.
Die anderen bedeutenden Naturschutzgebiete Europas befinden sich vor allem in der Westukraine, der Slowakei, Polen, Bosnien und Herzegowina, Montenegro, Bulgarien, Kroatien und Slowenien.
Nach einer Waldinventur aus dem Jahr 2005 (Pin Matra Projekt; Biris und Veen, 2005) sind in Rumänien noch rund 218.000 Hektar Urwald vorhanden. Es gibt jedoch Hinweise darauf, dass die staatliche Forstverwaltung nicht alle tatsächlichen Urwaldbestände gemeldet hat, so dass diese Zahl wahrscheinlich zu niedrig angesetzt ist.
Seit 2005 sind jedoch riesige Waldflächen abgeholzt worden und verloren gegangen, auch in den Urwäldern, die zuvor in der Biris-Veen-Studie identifiziert wurden. Wie viel von Rumäniens intaktem Waldschatz heute noch vorhanden ist, lässt sich aufgrund unzureichender Daten und staatlicher Aufsicht nur schwer sagen.
Kürzlich sagten rumänische Regierungsvertreter, das Pin-Matra-Inventar „existiert nicht“ und „niemand hat es“…
Waldzerstörung in Schutzgebieten
Im Gegensatz zu vielen anderen Ländern in Europa werden Nationalparks und Naturschutzgebiete in Rumänien auf äußerst zerstörerische Weise abgeholzt. Im BACKGROUND-DOSSIER – AUSSER KONTROLLE – Die Tragödie des Holzeinschlags in Rumäniens Nationalparks finden Sie ausführliche Informationen.
Auch die rumänischen Natura-2000-„Schutzgebiete“ stehen im Fokus einer räuberischen, kommerziellen Abholzungsindustrie, Urwälder bleiben von dieser mutwilligen Zerstörung nicht verschont.
Nach den Richtlinien der Weltnaturschutzorganisation IUCN sollen auf 75% der Nationalparkflächen streng geschützte Naturzonen eingerichtet werden, in denen keine menschlichen Eingriffe stattfinden. Im krassen Gegensatz dazu erreicht nur ein rumänischer Nationalpark dieses Niveau und in allen anderen Parks werden bis zu zwei Drittel der Schutzgebiete kommerziell abgeholzt. Weltweite Standards für das Parkmanagement werden völlig ignoriert.
Es ist ein sehr trauriger Zustand, dass die regierungseigene Abholzungsfirma Romsilva für das Management fast aller rumänischen Nationalparks zuständig ist. Die Regierung stellt keine Mittel für das Parkmanagement zur Verfügung. Die Ironie des Schicksals ist, dass Romsilva in den Nationalparks und Reservaten abholzt, um sie (indirekt) zu finanzieren. Durch diesen absurden Interessenkonflikt sind in den letzten Jahrzehnten riesige Urwaldflächen in den Nationalparks verloren gegangen.
In den Naturparks Apuseni und Maramures (und Natura-2000-Gebieten) sowie im Fagaras-Gebirge zum Beispiel sind die Beweise für die Waldzerstörung besonders schockierend. Hier sind ganze Täler abgeholzt worden. Der Lebensraum für seltene und streng geschützte Tiere wie den strukturell geschützten Auerhahn (Tetrao urogallus) wurde weitgehend vernichtet.
In diesen Tälern verschwinden Naturwälder unter der Kettensäge, Überschwemmungen, Erdrutsche und Lawinen gefährden Siedlungen und Verkehrswege.
Rumäniens ehemalige Ministerpräsidentin Carmen Palmer brachte die Abholzung in Rumäniens Wäldern auf den Punkt. Auf einer Waldkonferenz in Bukarest sagte sie 2016: „Rumäniens Wald hat Krebs“.
Sinca-Tal – eine traurige Geschichte eines gefährdeten Welterbes
Noch vor wenigen Jahren war das Tal der neuen UNESCO-Welterbestätte bei Sinca im rumänischen Fagaras-Gebirge von traumhaften Urwäldern bedeckt. Einige der größten Tannenbäume Rumäniens wachsen hier. Leider ist nur ein Bruchteil des rund 1.000 Hektar großen Urwaldgebiets als UNESCO-Welterbe nominiert.
Obwohl in den registrierten und intakten Wäldern seit einem Ministerialerlass aus dem Jahr 2012 auf Wald verzichtet wird, wird im hinteren Teil des Sinca-Tals seit 2013 kontinuierlich prächtiger Urwald gerodet. Nun ist das Tal mitsamt seinen Seitenbächen durch brutal angelegte Forststraßen teilweise verwüstet und der alte Wald ist nun von Abholzungsflächen durchzogen. Die Regierung hat nicht angemessen auf die Beschwerden der Umweltorganisation Agent Green reagiert. Die Behörden haben die Abholzung nicht gestoppt.
Dieser traurige Verlust an Naturerbe beschränkt sich jedoch nicht auf das Sinca-Tal. Auch um das geplante UNESCO-Reservat Iauna Craiova inmitten des Nationalparks Domogled-Valea Cernei wurde Urwald zerstört. Ganze Hänge wurden in den letzten 10 bis 15 Jahren gerodet. Schwere Abholzungsmaschinen haben den Waldboden aufgerissen und das empfindliche Ökosystem, das seit Jahrtausenden ungestört war, zerstört.
Noch schlimmer ist die Situation in vielen Natura 2000-Gebieten (SCI): In Gebieten wie Nordul Gorjului de Vest, Apuseni, Maramures, Fagaras, Tarcu oder Someşul Rece, die nach europäischem Recht als Schutzgebiete ausgewiesen sind, wurden ganze Bergkämme und Täler weitgehend verwüstet. Tausende Hektar Primärwald sind jetzt zerstört oder geschädigt.
Borkenkäfer und andere Waldverbrechen
Der Borkenkäfer wurde als Vorwand benutzt, um riesige Flächen gesunden Waldes in Rumänien abzuholzen. Die Analyse von Satellitenbildern zeigt, dass die so genannte „Borkenkäferabholzung“ Wälder in Gebieten zerstört hat, die nicht stark vom Käfer befallen sind. Die Wissenschaft sagt uns, dass Borkenkäfer Teil natürlicher Prozesse sind, und dass jegliche Waldschäden durch die Abholzung nur noch verschlimmert werden. Rumänische Experten und Umweltschützer haben den Behörden vorgeworfen, bei diesem katastrophalen Raubbau die Augen zu verschließen. Korruptionsvorwürfe wurden öffentlich erhoben.
Die Waldverbrechen erreichten in den Jahren 2005 bis 2010 einen traurigen Höhepunkt im Zuge eines Prozesses zur Rückgabe von Waldflächen, einer angeblichen Rückabwicklung der von den Kommunisten nach 1950 enteigneten Wälder. Dieser Prozess war weitgehend eine Täuschung. Es wird geschätzt, dass mindestens die Hälfte der Waldrückgaben an private Eigentümer mit gefälschten Dokumenten und durch Bestechung zustande gekommen sind und somit illegal waren. In vielen Fällen wurden diese gestohlenen Wälder so schnell wie möglich abgeholzt und zu schmutzigem Geld gemacht. Die rumänische Bevölkerung hat durch diesen Diebstahl enorme Naturwerte verloren.
Verstöße gegen das Umweltrecht
Im September 2012 hat die rumänische Regierung nach einer massiven Petitionskampagne unter der Leitung des WWF ein Gesetz zum besseren Schutz der Urwälder erlassen. Es wurde ein „Nationaler Katalog der Urwälder“ erstellt und intakte Urwälder durften nicht mehr abgeholzt werden. Ausnahmen wurden nur dann gewährt, wenn sich herausstellte, dass die Wälder bereits abgeholzt waren und die definierten Kriterien zur Identifizierung von Urwäldern nicht mehr erfüllten.
Die Realität sieht jedoch ganz anders aus: Analysen von Satellitenbildern und Recherchen vor Ort zeigen, dass auch nach 2012 weiter Urwälder abgeholzt wurden. Das Gesetz wird von Waldbesitzern, Forstverwaltungen und Behörden ignoriert.
Rumänische Experten haben berichtet, dass viele kommunale und private Waldbesitzer sich weigern, die Verordnung umzusetzen, weil sie keine Entschädigung von der Regierung erhalten haben. Rumänische Insider versichern uns, dass dieser Prozess von Korruption durchsetzt ist.
Agent Green, EuroNatur und andere NGOs fordern die rumänische Regierung dringend auf, ausreichende Mittel für die Entschädigung privater und kommunaler Landbesitzer bereitzustellen, um sicherzustellen, dass die Ausbeutung der verbleibenden Urwälder aufhört. Die nationalen Wälder müssen von der Regierung per Dekret geschützt und die Abholzungsbehörden einer strengeren Gesetzeskontrolle unterworfen werden.
Der deutsche Ökologe und Naturschützer Prof. Dr. Hans Dieter Knapp bezeichnete die Zustände in der rumänischen Abholzungsindustrie wegen ihrer Intransparenz und Korruption sogar als „Dracula-System“.
Hürden auf dem Weg zum „Nationalen Urwaldkatalog“
Um in den „Nationalen Urwaldkatalog“ aufgenommen zu werden, müssen die Kandidatengebiete wissenschaftlich dokumentiert und von zertifizierten Experten gegenüber den Behörden bestätigt werden. Diese Arbeit wird derzeit ausschließlich von Naturschutzorganisationen und einigen mit ihnen kooperierenden Wissenschaftlern durchgeführt.
Nach aktuellen Schätzungen gibt es in Rumänien noch mehr als 100.000 Hektar Urwald. Kein anderes EU-Land hat auch nur annähernd so viel Urwald, doch weniger als ein Drittel davon ist effektiv geschützt. Jede Minute verliert Rumänien (und Europa und die Welt) mehr unersetzliche Urwälder.
Die Umwelt-NGOs sind daher verzweifelt, so viele dieser Gebiete wie möglich in den Katalog aufzunehmen – um die notwendigen Studien zu dokumentieren und den Forstinspektoren zu melden – bevor die Abholzungsunternehmen sie zerstören können.
Die Durchführung dieser Studien ist zeitaufwendig und schwierig. Sie müssen nachweisen, dass die Wälder den strengen Kriterien für Urwald entsprechen, genaue Waldparzellen enthalten, die sich oft in schwer zugänglichem Gelände befinden, und von anerkannten Experten unterzeichnet sein. Die von der Regierung aufgestellten Kriterien sind äußerst streng: Wenn in einem Wald ein paar Bäume fehlen oder die intakte Urwaldfläche weniger als 20 Hektar umfasst, fällt der Urwald aus dem Katalog und darf nur noch abgeholzt werden.
Das ist eine schreckliche Situation und ein leichtes Spiel für die Holzfäller. Sie brauchen nur ein paar Bäume zu fällen oder mit einem Bagger einen Weg in den Wald zu graben und schon sind die Kriterien nicht mehr erfüllt und der Urwald ist verloren. Während der Papierkram im Eiltempo erledigt wird, können die Kettensägen bereits laufen.
Die Erstellung des „Urwaldkatalogs“ ist also ein Wettlauf mit der Zeit. Während Naturschützer und wissenschaftliche Experten durch die Wälder hetzen, um deren großartige Werte zu dokumentieren, fällen Waldbesitzer und Holzfirmen so schnell wie möglich so viele Wälder wie möglich.
Das geschieht mit besonders großer Brutalität. Bulldozer fräsen wilde Schneisen durch die Urwaldhänge und zerschlagen und begradigen Bergbäche, um Straßen für die Holzfällerfahrzeuge zu bauen. Statt der kristallklaren Waldbäche, die sich durch diese Täler schlängeln, fließt eine schlammige Brühe durch die Berge, die Fische tötet und das Trinkwasser verschmutzt.
Behörden boykottieren Umweltvorschriften
Im Jahr 2016 gab es viele Berichte, dass Forstverwaltungen und Behörden die Bemühungen von NGOs und Experten für den Urwaldkatalog sabotieren. Im Herbst 2016 meldete Agent Green fast 2000 Hektar Urwaldflächen an die zuständigen Forstbehörden – die Arbeit eines ganzen Sommers, in dem ein Expertenteam täglich gegen die Kettensägen ankämpfte.
Die Studien wurden vor einer Winterfrist eingereicht, denn zwischen Oktober und März werden keine Urwaldstudien von den Behörden akzeptiert. Die Abholzung geht jetzt, im Winter 2016, weiter, da der gefrorene Boden die schweren Abholzungsbulldozer nicht aufhält.
Aber die Forstinspektoren ignorierten die Studien von Agent Green. Die 5-Wochen-Frist für die Studienbeurteilungen verstrich, ohne dass die Forstaufseher reagierten. Aufgrund der rechtswidrigen Untätigkeit und des Schweigens der Behörden wurden diese unschätzbaren Wälder nicht in den Katalog aufgenommen und somit nicht geschützt. Auch andere NRO haben über Untätigkeit und Hindernisse seitens der staatlichen Forstverwalter und Forstbeamten berichtet. Die Abholzung hat für diese „Beamten“ eindeutig Vorrang.
Ein internationales Team von Wissenschaftlern unter der Leitung von Professor Miroslav Svoboda (Tschechische Universität für Biowissenschaften, Prag) untersucht seit vielen Jahren verschiedene Urwälder in Rumänien (und anderen EU-Ländern). Auch ihre wissenschaftlichen Untersuchungsgebiete sind von der Zerstörung bedroht. Im Jahr 2015 schickten die Forscher einen dringenden Brief an die Regierung – mit der dringenden Bitte, diese unersetzlichen Wälder wenigstens für die Wissenschaft zu erhalten. Die Abholzung ging jedoch weiter, ohne dass die Regierung eingriff. In Zusammenarbeit mit rumänischen Experten wollten die renommierten Wissenschaftler die Urwälder in den Fagaras-Bergen und anderen Karpatengebieten in den nationalen Katalog aufnehmen lassen. Doch bis heute hat die Regierung ihre glaubwürdigen Forderungen ignoriert. Die zuständigen Forstbeamten haben nicht gehandelt, und die Studien konnten nicht bis zum 1. Oktober übermittelt werden. Auf der Liste und nun von der Abholzung bedroht sind international wichtige Urwaldjuwelen wie Boia Mica und Arpaselu.