Unter allen australischen Wildtieren sticht eines hervor, das eine Identitätskrise hat: der Dingo. In unserem kürzlich in der Zeitschrift Zootaxa erschienenen Artikel wird jedoch argumentiert, dass Dingos in mehrfacher Hinsicht als echte Art betrachtet werden sollten.
Das ist nicht nur eine Frage der Semantik. Wie sich jemand auf Dingos bezieht, kann seine Werte und Interessen ebenso widerspiegeln wie die Wissenschaft.
Wie sich Wissenschaftler in der Presse auf Dingos beziehen, spiegelt ihren Hintergrund und ihren Arbeitsplatz wider, und die westaustralische Regierung hat kürzlich einen umstrittenen Versuch unternommen, den Dingo als „nicht einheimische Fauna“ einzustufen.
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Wie wir Arten definieren – Taxonomie genannt – beeinflusst unsere Einstellungen und langfristigen Ziele für ihre Erhaltung.
Was ist ein Hund?
Im Laufe der Jahre haben Dingos viele wissenschaftliche Namen erhalten: Canis lupus dingo (eine Unterart des Wolfes), Canis familiaris (ein Haushund) und Canis dingo (eine eigene Art innerhalb der Gattung Canis). Diese Namen werden jedoch sowohl in der akademischen Literatur als auch in der Regierungspolitik uneinheitlich angewandt.
Diese Uneinheitlichkeit spiegelt teilweise die weltweiten Auseinandersetzungen über die Benennung von Caniden wider. Für diejenigen, die am traditionellen „biologischen“ Artkonzept festhalten (bei dem eine „Art“ eine Gruppe von Organismen ist, die sich untereinander vermehren können), könnte man den Dingo (und alle anderen Caniden, die sich untereinander vermehren können, wie Wölfe, Kojoten und Schabrackenschakale) als Teil einer einzigen, sehr variablen und weit verbreiteten Art betrachten.
Aber das „biologische“ Artkonzept, das zur Benennung von Arten verwendet wird, entstand lange vor den modernen genetischen Werkzeugen oder sogar bevor viele Hybridarten durch ihre DNA identifiziert wurden (wie der „rote Wolf“, ein alter Hybrid aus grauen Wölfen und Kojoten, der im Südosten der Vereinigten Staaten vorkommt).
Wenige Menschen würden wirklich behaupten, dass ein Chihuahua, ein Wolf und ein Kojote die gleiche Art sind. In Wirklichkeit gibt es viel umfassendere und logischere Möglichkeiten, eine Art zu klassifizieren. In unserer neuesten Arbeit argumentieren wir, dass ein ganzheitlicher Ansatz zur Definition von Arten im Fall des Dingos und anderer Caniden unerlässlich ist.
Unsere Arbeit zeigt schlüssig, dass Dingos sich von wilden Caniden und Haushunden anhand vieler verschiedener Kriterien unterscheiden.
Wirklich wild
Das erste Kriterium ist, dass Dingos wilde Tiere sind und völlig unabhängig vom Menschen leben. Das ist ein grundlegender Unterschied zu Haushunden, verwilderten oder wilden Hunden, die in der Nähe menschlicher Siedlungen leben müssen und in gewisser Weise auf den Menschen angewiesen sind, um zu überleben.
Ja, der Dingo könnte mit dem Menschen nach Australien gekommen sein, und wir wissen, dass die australischen Ureinwohner nach dessen Ankunft eine enge Beziehung zu Dingos hatten. Aber keine dieser Beobachtungen schließt aus, dass Dingos wild sind.
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Zum Beispiel stellt eine Beziehung zum Menschen keine strenge Definition von Domestikation dar. Nehmen wir den Rotfuchs (Vulpes vulpes), der ebenfalls vom Menschen nach Australien eingeführt wurde und jetzt frei herumläuft: Auch er gilt nicht als domestiziert. Auch Wildtiere wie Vögel, die wir in unseren Gärten füttern, sind nicht domestiziert, nur weil sie manchmal von uns gefüttert werden.
Ökologische Rolle
Tatsächlich leben Dingos schon sehr lange wild und unabhängig vom Menschen – sie haben eine eindeutige und einzigartige evolutionäre Vergangenheit, die sich vor etwa 5 bis 10 Tausend Jahren von anderen Caniden unterschied. Das ist mehr als genug Zeit für den Dingo, um sich zu einem eingebürgerten Raubtier zu entwickeln, das heute für die Aufrechterhaltung der Gesundheit vieler australischer Ökosysteme unerlässlich ist.
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Hunde haben nicht die Gehirnleistung oder die körperlichen Anpassungen, um in der freien Wildbahn zu überleben, und sie können nicht die gleiche ökologische Rolle wie Dingos spielen. Allein aus dieser ökologischen Perspektive sind die beiden Arten nicht austauschbar. Dingos sind Australiens einziges großes (zwischen 15 und 20 kg), landlebendes Raubtier und spielen als solches eine wichtige Rolle in der australischen Umwelt.
Form und Größe
Allein betrachtet lässt sich die Gesamtform des Körpers und des Schädels nicht ohne weiteres zwischen wilden Caniden und Hunden unterscheiden, vor allem wegen der großen Vielfalt der verschiedenen Haushunderassen.
Es gibt jedoch einige wichtige körperliche Unterschiede zwischen freilebenden Hunden und Dingos, vor allem in der Schädelregion (wie hier und hier gezeigt).
Verhalten
Dingos (und andere wirklich wilde Caniden) haben einige grundsätzlich einzigartige Verhaltensweisen, die sie von Hunden unterscheiden (obwohl es, wie bei der Form, auch bei den künstlichen Hunderassen oft Ausnahmen gibt). Zum Beispiel haben Dingos eine deutlich andere Fortpflanzungsbiologie und Pflegestrategien.
Es gibt auch Unterschiede in der Gehirnfunktion, etwa in der Art und Weise, wie die beiden Arten Probleme lösen, und Dingos und Hunde kommunizieren unterschiedlich mit Menschen.
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Genetik
Während Dingos und Hunde offensichtlich eine gemeinsame Vorfahrenschaft haben, gibt es viele genetische Daten, die die Unterscheidung zwischen Dingos und Hunden unterstützen.
Während Dingos eine gemeinsame Vorfahrenschaft mit alten asiatischen Hunden aus der Zeit vor 10.000 Jahren haben, ist der Dingo seit vielen Tausenden von Jahren geografisch von allen anderen Caniden isoliert, und genetische Vermischung hat erst in jüngster Zeit stattgefunden, höchstwahrscheinlich durch menschliche Eingriffe.
Seit den 1990er Jahren werden genetische Marker von Landverwaltern, Naturschutzgruppen und Forschern in großem Umfang eingesetzt, um Dingos von Haushunden zu unterscheiden.
Was steht auf dem Spiel?
Selbst wenn man die ungewisse und ferne Vergangenheit des Dingos anerkennt, ist es ungerechtfertigt, Dingos und Hunde in einen Topf zu werfen.
Dingos als „verwilderte Haushunde“ oder eine andere falsche Bezeichnung zu bezeichnen, ignoriert ihre einzigartige, lange und durch und durch wilde Geschichte in Australien.
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Eine unangemessene Namensgebung hat auch schwerwiegende Auswirkungen auf ihre Behandlung. Jede andere Bezeichnung als „Dingo“ kann als Rechtfertigung für ihre rechtliche Verfolgung dienen.
Ein weiterer Verlust von Dingos könnte schwerwiegende, negative ökologische Folgen haben, einschließlich der Gefahr, dass andere einheimische Tiere Australiens vom Aussterben bedroht sind.