Forscher versuchen seit langem herauszufinden, was dazu beiträgt, andere zu verstehen. Je mehr man über diese beiden sozialen Fähigkeiten weiß, desto besser kann man Menschen helfen, soziale Beziehungen aufzubauen. Allerdings ist immer noch nicht genau geklärt, was Einfühlungsvermögen und Perspektivenübernahme sind (letztere wird auch als „Theory of Mind“ bezeichnet). Die Fähigkeit, die Emotionen einer Person mit den Augen zu lesen, eine lustige Geschichte zu verstehen oder die Handlung einer anderen Person zu interpretieren – im Alltag gibt es immer wieder soziale Situationen, die diese beiden wichtigen Fähigkeiten erfordern. Sie erfordern jedoch jeweils eine Kombination aus verschiedenen einzelnen untergeordneten Fähigkeiten. Ist es in der einen Situation notwendig, Blicke und Gesichtsausdrücke zu deuten, so kann es in einer anderen notwendig sein, sich in den kulturellen Hintergrund des Erzählers hineinzudenken oder seine aktuellen Bedürfnisse zu kennen.
Bislang wurden unzählige Studien durchgeführt, die Empathie und Perspektivenübernahme als Ganzes untersuchen. Es ist jedoch noch nicht geklärt, was den Kern beider Kompetenzen ausmacht und wo im Gehirn ihre Grundlagen liegen. Philipp Kanske, ehemaliger MPI-CBS-Forschungsgruppenleiter und heute Professor an der TU Dresden, hat nun gemeinsam mit Matthias Schurz vom Donders-Institut in Nijmegen, Niederlande, und einem internationalen Forscherteam ein umfassendes Erklärungsmodell entwickelt.
„Beide Fähigkeiten werden im Gehirn von einem auf Empathie oder Perspektivwechsel spezialisierten ‚Hauptnetzwerk‘ verarbeitet, das in jeder sozialen Situation aktiviert wird. Je nach Situation sind aber auch weitere Netzwerke beteiligt“, erläutert Kanske die Ergebnisse der Studie, die gerade in der Zeitschrift Psychological Bulletin veröffentlicht wurde. Wenn wir die Gedanken und Gefühle anderer zum Beispiel aus ihren Augen ablesen, sind andere zusätzliche Regionen beteiligt, als wenn wir sie aus ihren Handlungen oder aus einer Erzählung ableiten. „
Für die Empathie arbeitet ein Hauptnetzwerk, das akut bedeutsame Situationen erkennen kann, indem es zum Beispiel Angst verarbeitet, mit weiteren spezialisierten Regionen zusammen, zum Beispiel für die Gesichts- oder Spracherkennung. Beim Perspektivenwechsel wiederum sind als Kernnetzwerk die Regionen aktiv, die auch für das Erinnern an die Vergangenheit oder das Phantasieren über die Zukunft genutzt werden, also für Gedanken, die sich mit Dingen beschäftigen, die im Moment nicht beobachtet werden können. Auch hier werden in jeder konkreten Situation weitere Hirnregionen eingeschaltet.
Die Forscher haben durch ihre Analysen auch herausgefunden, dass besonders komplexe soziale Probleme eine Kombination aus Empathie und Perspektivenwechsel erfordern. Menschen, die besonders sozial kompetent sind, scheinen den anderen auf beide Arten zu betrachten – auf der Basis von Gefühlen und auf der Basis von Gedanken. In ihrem Urteilsvermögen finden sie dann die richtige Balance zwischen beidem.
„Unsere Analyse zeigt aber auch, dass ein Mangel an einer der beiden sozialen Fähigkeiten auch bedeuten kann, dass nicht diese Fähigkeit als Ganzes eingeschränkt ist. Es kann sein, dass nur ein bestimmter Faktor betroffen ist, etwa das Verstehen von Mimik oder Sprachmelodie“, so Kanske weiter. Ein einziger Test reicht also nicht aus, um einer Person mangelnde soziale Kompetenz zu bescheinigen. Vielmehr bedarf es einer Reihe von Tests, um sie tatsächlich als wenig empathisch oder als unfähig, den Standpunkt des anderen einzunehmen, zu bewerten.
Die Wissenschaftler haben diese Zusammenhänge in einer groß angelegten Meta-Analyse untersucht. Dabei stellten sie zum einen Gemeinsamkeiten im MRT-Muster der 188 untersuchten Einzelstudien fest, wenn die Teilnehmer Empathie oder Perspektivenübernahme einsetzten. Dies ermöglichte die Lokalisierung der Kernregionen im Gehirn für jede der beiden sozialen Fähigkeiten. Die Ergebnisse zeigten aber auch, wie sich die MRT-Muster in Abhängigkeit von der spezifischen Aufgabe unterschieden und welche zusätzlichen Hirnregionen daher genutzt wurden.